Reichenauer Buchmalerei
Die Benediktinerabtei Reichenau besaß im 10. und 11. Jahrhundert die wohl größte und einflussreichste europäische Malschule. In ihrer Hauptblütezeit zwischen etwa 970 und 1010/20 entstanden dort im Auftrag der höchsten Kreise der damaligen Gesellschaft – Reichsbischöfe, Könige und Kaiser – eine Reihe meist liturgischer Prachthandschriften. Mit lebhafter künstlerischer Phantasie und innovativer Kraft schufen Mönche große Kunstwerke, deren Schönheit und Vollkommenheit noch heute faszinieren. Als Inspirationsquellen dienten ihnen sowohl die karolingische Buchmalerei der Hofschule Karls des Großen als auch altchristliche und byzantinische Vorlagen. Die Forschung ordnet die Codices in Gruppen, die nach Schreibern, Künstlern oder Auftraggebern benannt sind. Neben der Eburnant- und der Ruodprecht-Gruppe ist v.a. die Liuthar-Gruppe zu nennen. Ihr gehören die Prachthandschriften an, die die höchste Blüte der Reichenauer Malschule darstellen. Zu den kostbarsten Werken, die Kaiser Heinrich II. dem Bamberger Dom schenkte, zählen vermutlich die drei Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. Das Evangeliar Ottos III. (Clm 4453) mit Prachteinband und luxuriöser Ausstattung wurde im Auftrag des Kaisers angefertigt. Es weist neben einer doppelseitigen Huldigung der Provinzen an den thronenden Kaiser u.a. einen chronologisch angelegten Bilderzyklus zum Leben Christi (29 hochformatige ganzseitige Miniaturen auf Goldgrund) auf. Als Hochleistung der Reichenauer Buchmalerei gelten die Darstellungen der vier "visionären" Evangelisten. Das Evangeliar aus dem Bamberger Dom (Clm 4454) zeichnet sich durch ikonographische Besonderheiten aus, z.B. die Darstellung Christi im Lebensbaum umgeben von den Evangelistensymbolen und den Paradiesflüssen. In den Kanontafeln erscheinen die Tierkreiszeichen - eine ungewöhnliche, für die Malerei der Reichenau einmalige Verbindung. Das Perikopenbuch Heinrichs II. (Clm 4452) zeigt neben dem Widmungsbild, der Krönung Heinrichs und seiner Gemahlin Kunigunde durch Christus, einen Zyklus von 23 Miniaturen zum Neuen Testament. Besonders in den zweiseitigen Darstellungen kommen die monumentalen, ausdrucksstarken Figuren zur Geltung. Die drei Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek wurden Ende 2003 mit weiteren sieben, in anderen Bibliotheken befindlichen, illuminierten Handschriften von der Klosterinsel Reichenau im Bodensee in das Register des Weltdokumentenerbes aufgenommen.